Freitag, 13. Januar 2012

Kulturschock, der zweite

Schon wieder ist ein Monat vorbei, ebenso wie Weihnachten und meine 12-tägige Ghanareise. Und, ich warne schon mal vor, der Bericht ist länger als alle vorherigen.
Also auf Anfang.


Der 24. wird in Togo nicht großartig gefeiert, überhaupt ist Weihnachten laut Papa Kodzo eher „ein Fest für Kinder“. Daher haben meine drei Ghana-Mitreisenden und ich beschlossen, am 24. zu den Wasserfällen von Tomégbé zu wandern und dort den Tag zu verbringen. Da Simon und ich uns den Weg notiert hatten, hofften wir, die Wasserfälle auch ohne Guide wiederzufinden. Die erste Stunde lang hat das auch gut funktioniert, wir sind „beim Beignetstand links“, dann „beim großen Baum halblinks“ und „am Kakaomann vorbei“. Auf dem Weg haben wir etliche Bauern getroffen, die uns unbedingt begleiten wollten und immer wieder besorgt fragten, ob wir denn den Weg kennen würden. Wir versuchten es weiterhin auf eigene Faust. Kurz nach dem Kakaomann haben wir uns dann doch erfolgreich verlaufen und sind an ein paar Kreuzungen mehrmals vorbeigekommen. Schließlich haben wir unser Ziel erreicht, ausgiebig im Becken gebadet und dann unser Weihnachtspicknick genossen: Bananen, Orangen und Papaya zusammen mit aus Deutschland importierten Spekulatius von Mama und einem Plastikweihnachtsbaum von Simons Papa – So richtig vorstellen, dass unsere Familien in Deutschland gerade Weihnachten feiern, konnte sich keiner von uns, es war dennoch ein schöner Ausflug. Abends bin ich dann mit meiner Familie in die Kirche, wo der Chor ganz in weiß gekleidet einen Tanz aufgeführt hat und die Kinder Psalmen aufsagten – leider ist während der Messe drei Mal der Strom ausgefallen. Die ganze Kirche war mit Palmwedeln und Kitschkrusch geschmückt und sogar einen Weihnachtsbaum war aufgestellt worden; keine Tanne zwar, aber immerhin. Am nächsten Tag gab es Fufu mit leckerem Hähnchen und nachmittags haben Selia, die mit uns Weihnachten verbracht hat, und ich uns noch ein paar Bissap-Säfte gegönnt. So ist Weihnachten völlig unspektakulär vorübergegangen, was auch mal ganz schön war, ohne das übliche Durch-die-Geschäfte-hetzen und Jedem-ein-Geschenk-kaufen-müssen. Am nächsten Tag, dem 26.12., ging es auch schon los nach Ghana.


Hinfahrt.
Von Kpalimé geht es ab nach Lomé und dann über die Grenze nach Ghana.
Der vor einem kleinen Grenzposten sitzende, lässig auf seinem Stuhl wippende togoische Grenzbeamte lässt uns ein Formular ausfüllen, sieht sich jeden von uns genau an – unsere Reisetruppe besteht aus drei Frauen und einem Mann – und fragt Simon dann, ob er eine von seinen Frauen abhaben kann. Simon lacht und nach weiterer eingehender Beobachtung entscheidet der Grenzbeamte, dass ich als Ehefrau am ehesten in Frage komme. In einer gewohnt togoischen Langsamkeit, überfliegt er unsere Formulare, stempelt unsere Reisepässe, lacht und lässt uns auf die ghanaische Seite. Also ab zur „Immigration Office“ - das Spielchen mit dem Formular noch einmal, in der Office sitzen vier uniformierte Beamte hinter PCs und Webcams. Wir sollen doch bitte den Sicherheitsabstand wahren. Die Ventilatoren surren und die Klimaanlage kühlt das Büro runter auf gefühlte 20°C (oder: nach meinen momentanen Temperaturvorstellungen - sehr kalt!). Nachdem unsere Formulare dreimal überprüft wurden, jeder von uns mit der Webcam fotografiert wurde und die Grenzbeamten uns angeschnauzt haben, dass wir außer der Telefonnummer gefälligst noch einen Straßennamen angeben sollen, dürfen wir aus dem klimatisierten Büro mit frischen Stempeln im Reisepass wieder raus auf die Straße – nicht, dass es hier unstressiger werden würde: Überall grapschen Taxifahrer nach den Yovos: „'ccra, 'ccra! Nice, small car! 20 Cedis!“ Wie von einer Freiwilligen empfohlen, gehen wir ein Stück weiter, bis sich das Gedränge auflöst und wir in Ruhe einen kleinen Bus finden, der uns für weitaus weniger Geld nach Accra kutschiert.
Dass in Ghana die Busse nicht „vollgemacht“ werden wie in Togo, bedeutet, dass jeder seinen eigenen Platz hat und in einem PKW statt der in Togo üblichen sieben nur vier Leute plus Fahrer sitzen dürfen. Unser Bus ist äußerst komfortabel mit Klimaanlage ausgestattet, ja, sogar das Tacho funktioniert – und das ist nur der Beginn des kleinen Kulturschocks.


Accra.
Die sechsspurige Stadtautobahn, die nach Accra führt, lässt erahnen, was uns in Accra erwartet: Riesige Bankgebäude, Fastfood-Ketten wie KFC und Pizza Hut, die Allianz-Versicherung und Billabong, Bürgersteige, Straßenlaternen, Müllabfuhr, Unterführungen, Taxis, überall Taxis (-in Ghana gibt es keine Motos-), Buslinien und, vor allem, geregelter Verkehr! Ampeln mit grünen und roten Männchen, darunter eine Sekundenanzeige: 10 Sekunden Zeit wird den Fußgängern gegeben, um die Straße zu überqueren – nix für Omis. Und im Gegensatz zu Lomé bleibt hier auch wirklich jedes Auto vor einer roten Ampel stehen. So ungefähr muss es sich anfühlen, wieder zurück nach Europa zu kommen. Die vier Freiwilligen aus Togo sind ein bisschen überfordert. Lustigerweise haben drei von uns in jener Nacht denselben Traum: Wir sind wieder zurück in Deutschland und fühlen uns fremd in einer Welt, die eigentlich die Unsrige ist. Und Accra ist ein kleiner Vorgeschmack auf unseren Rückkehrschock.

Am nächsten Morgen geht es los mit Sightseeing. Vormittags fahren wir zum Markt. Er lässt unsere Münder genauso offen stehen wie die sechsspurige Autobahn: Ein unbeschreibliches Gewusel an Marktfrauen mit Strohhüten, die alles und nichts verkaufen, die einem Riesenschnecken vors Gesicht halten, Frauen mit Metallschüsseln auf ihren Köpfen (oftmals mehrere übereinander gestapelt), Männer, die Dir Schuhe andrehen wollen oder Dich heiraten, alles, alles, denn hier sprüht die Lebendigkeit Funken. Wir trauen uns in eines der mehrstöckigen Häuser für Großhändler. Riesige Lagerbestände an Ohrringen, Waschmitteln, Nagellack, und wir mittendrin. Quetschen uns durch die engen Gänge, durch das Gedränge, immer weiter die Treppe hinauf, bis wir schließlich ganz oben angekommen sind und das Gewimmel unter uns überblicken können. Wieder unten angekommen gehen wir ins Stoffhaus. Es kommt mir vor wie in einer riesigen Fabrik – schwül und stickig, überall sitzen Näherinnen, ihnen gegenüber ein kleines Stoffsortiment. Auch hier ist alles für Großhändler bestimmt, unter 12 Yards Stofflänge bekommt man nichts. Nach einem müden Verhandlungsversuch mit einer der Näherinnen geben wir schließlich auf und verschwinden von dem Stoffhaus und dem Markt, raus aus dem Gewusel.
Zwei Straßen weiter gibt uns die Armut die Hand und führt uns herum. Heruntergekommene Häuser, die Kloake modert in der Straßenrinne, nebenan sitzt eine Waschfrau vor riesigen Wäschebergen. Die Jungen auf dem Fußballplatz stürzen sich erst auf uns und verlangen Geld, dann auf das Essen, das ihnen eine der Freiwilligen schenkt. Ich fühle mich wie in einem Klischeedokumentarfilm über das „arme Afrika“. Hallo, zweites Extrem.
Später geht es ab nach Jamestown, ein Viertel, das mir „heimisch“, vorkommt. Ein ruhiges Viertel, kleine Boutiquen, Straßenstände, Bars mit Plastikstühlen, Cola und Fernsehen – hier fühlen wie uns wohl, es erinnert uns an Togo. Wir schlendern durch die Straßen, entdecken eine Kirche und gehen hinein. Drinnen findet eine Gospel-Chorprobe statt. Wir lauschen ein wenig der Musik und genießen die Atmosphäre.
Wir bequatschen in einer kleinen Bar in Jamestown unser Abendprogramm und beschließen, in der Accra Mall ins Kino zu gehen.

Die Mall überfordert uns wieder, wie so Vieles in dieser Stadt. Man betritt das riesige Gebäude und friert – Klimaanlagen als Zeichen für Wohlstand. Überall Läden von namenhaften Firmen, Hüpfburgen und Karussells für die Kinder, ein Food-Court mit Pizzas und Croissants und allem was der Magen begehrt, ein Internetcafé, ein Buchladen und eben ein Kino. Wir entscheiden uns für einen ghanaischen Film. Der Kinosaal ist quasi leer. Die Ghanaer gehen lieber in die amerikanischen Filme. Unser Film: „Losing You“. Wie nach amerikanischem Vorbild wird die Welt der Reichen und Schönen gezeigt: Ghanaerinnen in Minikleidchen, mehrere Autos in der Einfahrt, im Zimmer steht im Hintergrund der Laptop neben dem Fernseher neben der Klimaanlage. Die Kinder haben in jeder Szene ein neues Kuscheltier. Der Film vermittelt, dass die Kinder lieber Eis essen sollen und sich amüsieren als zur Schule gehen. Dennoch ist der Film erstens sehr amüsant und zweitens sehr aufschlussreich.
Es gibt sie eben beide in Accra, die Extrema. Es gibt die GhanaerInnen, die es sich leisten können, in der Mall einzukaufen, die bei KFC schnell Essen gehen und daheim auf jeden Fall eine Klimaanlage stehen haben. Und es gibt die Slums am Strand, die hungrigen Kinder, die Elektroschrotthändler.

Accra. Megastadt der Kontraste. Ich war nur zwei Tage dort und danach platzte mein Kopf beinahe an Eindrücken. Auch Euch kann ich nur einen Ausschnitt davon vermitteln. Mein Gedanke zum Abschluss: Accra ist alles und noch mehr. Und Accra ist nichts und noch weniger.
Accra ist eben beides.


Weiter nach Cape Coast und Kakum National Park.
In Cape Coast angekommen, finden wir schnell eine Bleibe direkt am Strand. Wir ziehen los und erkunden die Stadt. Sie ist eine eigenartige Mischung aus Touristenort und heruntergekommener, ärmlicher Kleinstadt. Am Strand lungern Rastas, die entweder Selbstgemaltes oder Selbstangebautes verkaufen. Wir fahren in den Kakum National Park, der berühmt ist für seine Hängebrücken über dem üppigen Grün. Es ist ein unglaubliches Gefühl, 60m über dem Boden zu schwanken und unter einem der Regenwald. Die Höhe wird einem nicht wirklich bewusst, denn die Bäume lassen selten einen Blick bis auf den Boden zu. Tiere allerdings gibt es keine zu sehen, da sie sich von Besucherpfaden fernhalten. Zwei Tage noch entspannen wir am Strand, dann geht es weiter nach Kumasi.


Kumasi.
In Kumasi soll sich angeblich der größte Markt Westafrikas befinden. Das ist jedoch eine Fehlannahme, denn Kumasi ist der Markt. Die ganze Stadt besteht aus Markt, mal aus weniger, mal mehr Ständen, und „mehr Markt“ erkennt man daran, dass man sich gedrängt und gequetscht fühlt wie auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt. Ich bin mir sicher, würde man lange genug suchen, fände man auch Glühwein hier. Doch Markt bedeutet auch immer, dass es anstrengend ist. Vor allem als Yovo, oder besser gesagt „obloni“ auf Twi. Jeder will die besten Schuhe, die tollsten Jacken und die besten Tomaten an Dich verkaufen. Und natürlich zu einem „good price, good price“. Wir laufen durch die Kleiderabteilung. Hier ist also das Zeug gelandet, dass die Menschen an Weihnachten säckeweise in die Altkleidercontainer werfen – inklusive Wollmützen und Wintermänteln, die in Kumasi kaum gebraucht, aber dennoch von der Jugend als Modeaccessoires getragen werden.


Ho.
Nach dem größten Markt Westafrikas fahren wir in ruhigere Gefilde. Ho, eine Stadt nahe des Volta-Sees, ist unsere nächste und letzte Station. An einem Tag besteigen wir den Mt Adaklu, von dem aus man vielleicht den Volta-See sehen könnte, wenn nicht Harmattan wäre und alles voller Staub.
Am anderen Tag fahren wir nach Akosombo, der Stadt am Staudamm. Ein Taxifahrer will uns für 40 Cedis zum Staudamm fahren. Wir lachen und lehnen ab. Viel zu teuer! Lieber suchen wir uns ein kleines Boot (Pirogue) und tuckern damit über den See. Nach kurzer Zeit finden wir auch einen Fischer, der uns mit raus nimmt. Die Landschaft um den See ist atemberaubend schön. Nach dem Ausflug verlangt der Fischer „so viel, wie wir für richtig halten“ und wünscht uns einen schönen Tag.



Heimreise.
Nach 12 Tagen ist meine Reise ins „europäische“ Ghana (Zitat meines Schulleiters in Tomégbé) auch schon wieder vorbei. Ich bin an der Busstation und will zurück nach Kpalimé, meine Reisegesellin der letzten Tage fährt Richtung Lomé. Ich finde ziemlich schnell einen Fahrer und ab geht’s, heimwärts. In einem kleinen Dorf in Ghana bleibt der Fahrer stehen. „Wir sind da“, sagt er. Ich sehe mich um. Nein, das ist nicht Kpalimé. „Doch“, sagt er und zeigt auf das Schild, das rechts am Straßenrand steht: Kpalimé-Toh. Ich fühle mich wie Herr Taschenbier in „Das Sams“, als er unpräzise Wünsche formuliert und dadurch ein Zimmer voll Eisbrocken hat, anstatt einen Becher mit Speiseeis. „Nicht Kpalimé, Ghana. Kpalimé, Togo!“ Der Fahrer lacht laut auf und bringt mich zum nächstgrößeren Busbahnhof, auf dem jeder nach ca. 10 min weiß, dass der Yovo sich „verfahren“ hat – in der Voltaregion wird übrigens wieder Ewe gesprochen. Eine abenteuerliche Busfahrt, eine lange Verhandlung mit einem Moto-Fahrer, einen Grenzübergang und einige Stunden später bin ich wieder daheim in Kpalimé, Togo und eine halbe Stunde später in Agomé-Tomégbé, Togo (nebenbei: Es gibt noch Agou-T., Badou-T., Agomé-Yoh und einige weitere ähnlich klingende Dörfer).


Tu préfères le Togo ou bien le Ghana? (Gefällt Dir Togo oder Ghana besser?)
Diese Frage wurde mir neben dem obligatorischen „Was hast du mir mitgebracht“ oft gestellt. Und oft habe ich mit Togo geantwortet, einfach, weil ich mich, sobald ich in Togo war, wieder daheim gefühlt habe. Die Menschen in Tomégbé, mit denen ich die Frage diskutiert habe, haben alle mit Ghana geantwortet – selbst wenn sie noch nie dort waren. Klar, in Ghana ist das Geld. Ghanas politische und wirtschaftliche Stabilität macht vieles einfacher, hinzu kommt die millionenschwere Entwicklungshilfe, die vor allem von Großbritannien ausgezahlt wird. Eigentlich ist es unfair zu behaupten, dass Ghana „wie Europa“ sei – auch das habe ich hier schon mehrfach vernommen. Als käme erst Europa, dann Ghana, sozusagen als Zwischenstufe, dann das „arme“ Togo. Als könnte es kein modernes Afrika geben. Viel zu oft, wenn ich ein Fastfood-Restaurant oder ein imposantes Gebäude in Accra gesehen habe, dachte auch ich: Wie in Europa!
Aber Afrika ist eben nicht nur Hunger, Armut und Entwicklungshilfe, wie so oft und so gerne von den Medien dargestellt wird. Afrika kann auch Wohlstand, Konsum und Tourismusmagnet sein, wieso nicht? Auch Togo arbeitet sich Stück für Stück voran, auch wenn viele Togoer, mit denen ich sprach, resigniert wirken. Im Dezember wurde für zwei Tage nationaler Lehrerstreik ausgerufen – nahezu alle Lehrer sind daheim geblieben. Sie fordern höhere und gerechtere Löhne. Zwei Lehrer, beide mit einem Bachelor-Abschluss, verdienen gleichviel. Der eine arbeitet 20h die Woche, der andere 6h die Woche. Bisher brachte der Streik kein Resultat, doch ein zweiter im Januar ist bereits geplant. Wichtig ist doch, dass etwas geschieht. Und dass der togoische Präsident Faure nicht noch eine Villa mit Hubschrauberlandeplatz von Steuergeldern baut, sondern endlich die Löhne und das Kindergeld anhebt (es beträgt momentan 2000F, ca. 3€ pro Monat). Bis ich in Togo denken werde: „wie in Europa“ oder „wie in Ghana“ ist es sicher noch ein weiter Weg. Aber es geht voran, molo, molo (langsam, langsam).

So, nun ist aber Schluss!
Fotos gibt’s wie immer auf pixxolo.de!


Auf bald,
wie immer freue ich mich auf Resonanz, welcher Art auch immer,
und nachträglich wünsche ich Euch ein frohes neues Jahr!


Claudia Aku.